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Ulrich Seeberg

Ästhetische Erfahrung und die Orte des Denkens | Aesthetic experience and the views of thinking

 

Daß das Denken an einem Ort oder von einem Standpunkt aus geschieht, scheint zunächst eine wenig aussagekräftige Bestimmung zu sein. Denn Denken bedeutet, wie Kant schreibt, sich von einem bloß privaten eigenen Standpunkt, bedingt etwa durch Alter, Geschlecht, Stand und Lebensart, zu lösen und einen allgemeinen Standpunkt einzunehmen, indem man sich in den Standpunkt anderer versetzt; es bedeutet als solches, eine Sache unter verschiedenen Blickwinkeln oder Aspekten beurteilen zu können. Diese Bestimmung, die Kant auch als Maxime der Urteilskraft zusammenfaßt, an der Stelle jedes anderen zu denken, behauptet allerdings nicht, daß es einen höchsten allgemeinen Standpunkt der Beurteilung gäbe. Die Idee eines solchen höchsten Standpunkts in einer Verstandeswelt fungiert vielmehr lediglich regulativ als heuristische Maxime, möglichst viele Standpunkte der empirischen Beurteilung in der Sinnenwelt zu berücksichtigen. 

Es ist daher auch nicht das erfahrungswissenschaftliche Denken, das grundsätzliche Fragen bezüglich einer Verschiedenheit von Standpunkten oder Orten für das Denken aufwirft, sondern ein Denken, welches in unbedingter Weise die Existenz des Denkenden selbst einbezieht. Im Bereich der moralischen Beurteilung, so Kant, geht es nun zwar in diesem Sinne um die unbedingten Fragen des Menschen nach einem letzten und verbindlichen Zweck seines eigenen Daseins, eines Zwecks, den er nur selbst, aus Freiheit heraus, nicht aber als empirische Gegebenheit bestimmen kann. Hierfür ist aber in konstitutiver Weise ein höchster allgemeiner Standpunkt der Beurteilung erforderlich, auch wenn dieser zugleich deswegen mit einem bedingten Standpunkt im Bereich der sinnlich motivierten Handlungen verbunden ist, weil sich das unbedingte moralische Urteil nur als ein Sollen äußert, dem als solchen nicht notwendigerweise auch schon im Handeln entsprochen wird. Verschiedene Standpunkte der sich als Sollen äußernden moralischen Beurteilung sind daher aber im strikten Sinne, trotz der Verschiedenheit der Handlungsmotivationen und -situationen, nicht möglich. 

Der eigentliche Ort eines Nachdenkens über die Orte des Denkens betrifft daher jenen Bereich, in dem sich der Mensch in der konkreten Vielgestaltigkeit seines Lebens selbst zum Thema wird. Dies ist der Bereich der Ästhetik bzw. der Kultur im engeren Sinne. Denn für die ästhetische Erfahrung ist es wesentlich, daß ihr Gehalt nicht begrifflich bestimmt und dann auf besondere Fälle angewandt sondern überhaupt nur im Ausgang vom je eigenen Erleben konkreter Situationen oder Orte verstanden werden kann. Die Verbindlichkeit des ästhetischen Urteils ergibt sich wiederum daraus, so Kant, daß das individuelle Erleben sich als solches durch die Reflexion auf die nicht abstrakt bestimmbare Norm eines Gemeinsinns bzw. die Idee einer gemeinschaftlich geteilten Welt konstituiert, mit der es sich als übereinstimmend oder nicht übereinstimmend erfahren kann. 

Ein in dieser Weise reflektiertes Bewußtsein der Vielgestaltigkeit und Geschichtlichkeit der jeweils neu und verschieden zu gewinnenden und dabei jeweils eigene Verbindlichkeit beanspruchenden ästhetischen Erfahrung bietet nun Raum auch für jene Irritationen, wie sie seit Beginn der Ästhetik in der westlichen Moderne im Blick auf die Pluralität verschiedener Kulturen in der Vergangenheit und in der Gegenwart thematisiert worden sind. Die faktische Pluralität verschiedener Kulturen und Kunstwerke vor allem der eigenen (modernen) Gegenwart bedeutet nicht, daß es keinen gemeinsamen Maßstab ihrer Beurteilung gäbe. Gleichwohl bleibt die ästhetische Erfahrung in besonderer Weise an konkrete und auch kontingente lebens- wie auch kulturgeschichtliche Situationen oder Orte gebunden, die sich als solche nicht in einen äußerlich bestimmbaren Gesamtzusammenhang bringen lassen und auf die sich, auch im Unterschied zu erfahrungswissenschaftlichen und moralischen Urteilen, einzulassen, um die Erfahrung einer gemeinschaftlich geteilten Welt machen zu können, daher eine besondere Herausforderung darstellt. Im Vortrag soll anhand der Differenzierungen Kants dieses Problem einer spezifischen Ortsgebundenheit einer in diesem Sinne ästhetisch-existenziellen Erfahrung – mit einem Seitenblick auch auf die durch Heideggers Daseinsanalyse inspirierte Hermeneutik Gadamers – herausgearbeitet und perspektivisch auch auf das Problem der individuellen Erfahrung in einer globalisierten Moderne bezogen werden. 

 

 

Studium der Philosophie und Germanistik in München, Oxford, Berlin; Dissertation zu Kants Kritik der reinen Vernunft 2001 in Berlin (Humboldt-Uni; betreut von Dieter Henrich); 2001-2010 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Künste Berlin, Lehrstuhl für Ästhetik und Kunsttheorie; 2010-12 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Halle-Wittenberg; zur Zeit Habilitation zur Ästhetik der Moderne an der Universität Halle-Wittenberg.

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