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Oliver Bruns

Der politische Raum als verborgener Grund des metaphysischen Denkens. Hannah Arendts Deutung des ursprünglichen Verhältnisses von Politik und Philosophie bei den Griechen | The political realm as hidden ground of metaphysical thinking. The original relation of politics and philosophy according to Hannah Arendt

 

Mit Vita activa oder Vom tätigen Leben hat Arendt die philosophischen Schulen ihrer Zeit gleich auf zweierlei Weise irritiert: Sie hat den Vorrang politischen Handelns sowohl gegenüber den beiden anderen Grundtätigkeiten, dem Herstellen und dem Arbeiten, als auch gegenüber der Tätigkeit des Denkens herauszustellen versucht. Sie schließt ihre Schilderung des zunehmenden Verfalls der Vita activa mit einer Bemerkung zum Denken ab: »Das Denken schließlich hat, so möchte man hoffen, von der neuzeitlichen Entwicklung noch am wenigsten Schaden genommen. Es ist möglich und sicher auch wirklich, wo immer Menschen unter den Bedingungen politischer Freiheit leben. Aber auch nur dort. Denn im Unterschied zu dem, was man sich gemeinhin unter der souveränen Unabhängigkeit der Denker vorstellt, vollzieht sich das Denken keineswegs in einem Wolkenkuckucksheim, und es ist, gerade was politische Bedingungen anlangt, vielleicht so verletzbar wie kaum ein anderes Vermögen.« Der Grund für diese Verletzbarkeit ist, kurz gesagt, dass die »Wirklichkeit der Welt« keine Hervorbringung des Denkens, sondern gemeinsam handelnder Menschen ist. Das Handeln geschieht an einem konkreten Ort, dem »Erscheinungsraum«, es manifestiert sich im Laufe der Zeit in »Weltdingen«, also jenen Dingen, die über die geschichtlich-politische Situation Auskunft geben. Aber der ausschließlich durch Getanes und Gesagtes hervorgebrachte Erscheinungsraum ist nicht an die materiellen Weltdinge gebunden. Immer wieder zitiert Arendt jenen Satz den die Polisbewohner Auswanderern mit auf den Weg zu geben pflegten: »Wo immer Ihr seid, werdet ihr eine Polis sein.« Der politische Raum ist nicht an den städtischen Platz, die Agora, gebunden, sondern wird solange mitgetragen, wie die zwischenmenschlichen Bezüge der Beteiligten erhalten bleiben. 

In meinem Vortrag möchte ich zunächst die von Arendt behauptete Abhängigkeit des Denkens vom politischen Raum näher erläutern. Diese These wird von ihr nicht nur in der Auseinandersetzung mit der antiken Polis oder in Vita activa Oder vom tätigen Leben, sondern in unterschiedlichen Variationen im gesamten Werk vertreten, also auch in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Eichmann in Jerusalem oder in ihrer Vorlesung über Moralphilosophie Über das Böse. Es ist also in ihrem Sinne keine Überspitzung zu behaupten, dass philosophisches Denken unabhängig vom politischen Bereich schlechterdings unmöglich ist. Wenn dabei zugleich berücksichtigt wird, dass Arendt der Ansicht ist, dass die Etablierung politischer Räume geschichtlich nur äußerst selten – in der antiken Polis, in Rom sowie in der amerikanischen und der Französischen Revolution – erfolgte, dann scheint damit einer »interkulturellen Perspektive« wenig Raum gegeben zu sein. Dieser Eindruck ist jedoch verfrüht, denn der kritische Impetus Arendts besteht darin zu zeigen, dass durch den Ort (die Polis), durch den das griechische philosophische Denken überhaupt erst möglich wurde, eben diesem Denken eine spezifische Form, die metaphysische, aufgeprägt wurde. Für mich ist also vor allem die Frage im CfP, ob die Orte zu allererst das Denken bestimmen, leitend. Wenn der Ort und das Denken in diesem Falle einander so sehr bedingen, wie dies von Arendt behauptet wird und sehr dezidiert gezeigt worden ist, dann bedeutet das für die interkulturelle Philosophie möglicherweise, dass sie ihren eigenen Ort nur finden kann, wenn sie die Bedingtheit des metaphysischen Denkens durch den politischen Raum aufdeckt, was gerade deshalb so schwierig ist, weil diese »Ortsgebundenheit« für die Metaphysik quasi ein blinder Fleck ist.

 

 

Oliver Bruns (M.A.) studierte Politik und Geschichte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und promoviert derzeit zum Thema "Antike Grundlagen für die Herausbildung moderner Menschenrechte". Seine Forschungsschwerpunkte sind: die politische Theorie Hannah Arendts, Geschichte der Menschenrechte und das Denken Martin Heideggers.

 

Oliver Bruns (M.A.) studied political science and history at Oldenburg University and is doing a PhD on "Ancient foundations for the development of human rights in modernity". His fields of research are: the political theory of Hannah Arendt, history of human rights, the thinking of Martin Heidegger. 

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