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Helmuth Maaßen

Ort und Interkulturalität im Anschluss an Whitehead

 

Im 20. Jahrhundert wurde eine Metaphysik entwickelt, die, entgegen klassischen Traditionen, in einer spezifischen Zeit und Geschichte und auch lokal verankert wird. Diese vermeintlich aporetischen Annahmen für eine Metaphysik finden sich in der Prozess-Metaphysik Alfred North Whiteheads. In seinem Haupwerk ‚Process and Reality: An Essay in Cosmology‘ beschreibt er, vergleichbar mit Leibnizschen Monaden, Wirlichkeit als einen komplexen Zusammenhang von Erfahrungstropfen, atomistischen Entitäten, deren Entstehen  als ein Wechselspiel von Selbstkonstitution und Erfassen des in der Selbstkonstitution notwendigen ‚Überschusses‘ von vorangehenden und damit abgeschlossenen atomistischen Entitäten verstanden wird. Diese Akte nennt Whitehead ‚aktuale Entitäten‘. In deren Konstitution findet sich aus der jeweiligen spezifischen Perspektive die Gesamtheit des Vergangenen, dass durch diese Konstitution um ein Neues elementares Ereignis, eine aktuale Entität, erweitert wird. Diese ontologische Fundierung generiert durch komlexe Verknüpfungen in ihrer höchsten Form Phänomene wie Gewissen, Bewusstsein etc.. Wertvorstellungen und Perspektivität sind insofern für Whitehead keine Sekundärphänomene, die erst dem Menschen eigen sind, sondern auf der elementaren ontologischen Ebene der beschriebenen aktualen Entitäten wird Auswahl (zulassen oder negieren des Vergangenen), Wertsetzung (Bestimmung eines neuen telos), angesetzt. Whiteheads Metaphysik wird deshalb auch als eine Metaphysik der Erfahrung beschrieben. Es geht um die Überwindung von Dichotonomien wie denen von primären und sekundären Qualitäten, objektiven und subjetiven Perspektiven. Die immer gegebene Subjektivität bedeutet allerdings keine Beliebigkeit, sondern schickt sich an, jede Beschreibung als eine notwedig subjektive zu verstehen. Vermeintlich objektive Perspektiven sind Abstraktionen subjektiver Erfahrungen. Whitehead geht so weit, auch mathematische Vorstellungen in derartigen subjektiven Erfahrungen zu gründen.

Stellt man sich nun die im Selbstkonstituierungsprozess erfasste Vergangenheit als einen nach hinten geöffnetenTrichter vor, lässt sich anschaulich machen, dass keine aktuale Entität, diese elementaren Prozessentitäten, eine identische Vergangenheit mit einer anderen Entität haben kann. Abhängig von der  Nähe oder Ferne von einer anderen Entität ergeben sich grössere oder kleinere Schnittmengen. Durch Abstraktionsprozesse gemachter Erfahrungen lassen sich allgemeine Aussagen machen, z.B über Wertvorstellungen wie Krieg und Frieden, Freiheit und Zwang etc..  Nur wenn der in Erfahrungen gegründete Sachverhalt verkannt wird, wenn ihre subjektive Herkunft verloren geht, kann es zu Widersprüchen oder unlösbaren Konflikten kommen.

Eine interkulturelle Philosophie, die zunächst eine grössere Ferne jeweiliger Denkformen ansetzt, sollte aus prozessphilosophischer Perspektive deren Verschiedenheit nicht abzumildern, oder gar zu negieren trachten, sondern ausgehend von der jeweiligen subjektiven, zeit- und ortsgebundenen Erfahrung, diese zur Geltung bringen. Erst dann können durch Abstraktionsprozesse des Verschiedenen Überschneidungen, Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten und bleibende Unterschiede konstatiert werden.

Diese prozessphilosophische Methode gilt es, gemäss ihres eigenen Anspruches, auf Adäquatheit bezüglich unterschiedlicher kultureller Phänomene anzuwenden, sie zu bestätigen oder zu revidieren.


Helmut Maaßen teaches Philosophy at Heinrich Heine University, Duesseldorf, Germany and is the editor of the book series European Studies in Process Thought (ESPT).  He has spent research sabbaticals at Boston University (1990) and Jawarhalal Nehru University, Delhi/India (2000).  He taught at Claremont School of Theology/CA in 2007. He has published several books on A.N. Whitehead and Charles S. Peirce and numerous scholarly articles.  He is also the International Book Review Coordinator for Germany of Process Studies. He is President of the German Whitehead Society (since 2009), he is President of the European Society for Process Thought (since 2012); he is Executive Director of IPN (International Process Network). 

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