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Christoph Dittrich

Exteriorität und Grenze. Der locus enunciationis bei Enrique Dussel und Walter Mignolo | Exteriority and Border. The locus enunciationis of Enrique Dussel and Walter Mignolo

 

Walter Mignolo und Enrique Dussel legten in ihren Kollaborationen im interdisziplinären Forschungsprojekt der Gruppe Kolonialität/Moderne beide (ebenso wie die meisten anderen Mitglieder der Gruppe1) großes Augenmerk auf Verortungen und, unter dem Begriff locus enunciationis, besonders auf die Relation von Ort und Denken.

Im Fall der Befreiungsphilosophie steht das Motiv der Verortung am Anfang der ganzen Bewegung, insofern sie von einer Suche nach einem eigenen Ort ihren Ausgang nahm. Entscheidend beeinflusst durch eine Debatte über die Existenz und die Konditionen einer authentischen lateinamerikanischen Philosophie versuchten ihre Vertreter eine Philosophie zu entwerfen, die in der Geschichte des Kontinents und seinen Landschaften verwurzelt sein sollte. Dussel kam zum Schluss, man müsse von der Dialektik der Herrschaft ausgehend an alternativen Projekte arbeiten. Die Suche nach einer spezifischen Philosophie einer abhängigen Region führte zur umstrittenen Rezeption Emmanuel Levinas’, durch die die Befreiungs- philosophie ihren Standpunkt auch sozial und ethisch orten wollte. Obwohl Levinas bekannte, durch diese Rezeption eine große Zustimmung zu erfahren, missfielen ihm Teile der Verortungsbemühungen, die ihn an die „Geister des Orts“ erinnerten.

Der Semiotiker Mignolo trifft sich nun mit Dussel bei der Kritik an der (eurozentrischen) Moderne und im Speziellen bei der Thematisierung eines starken Zusammenhangs von Ort und Denken, bei Verortungen sowie bei „Verbergungen“ des Aussageortes, als welche die von Europa ausgehenden Universalisierungen betrachtet werden. Wie Dussel spricht er der Leiblichkeit, die er in seiner „Geo- und Körperpolitik des Wissens“ ebenfalls historisch und geopolitisch situiert, wenn er die „koloniale Wunde“ zum Ausgangspunkt nimmt, größte Bedeutung zu. Mignolo denkt die globale Welt als von einer kolonialen Machtmatrix dominiert, in deren Funktionszusammenhang auch die Kolonialität des Wissens eine wichtige Rolle spielt. Deren Überwindung erfordere es den locus enunciationis klar zu benennen, denn: „Man ist und fühlt, von wo aus man denkt.“

Dieses „von wo aus“ kennt durchaus einen privilegierten Ort: die Grenze. Diese, für deren begriffliche Bestimmung Mignolo auf Dussels von Levinas übernommenen Begriff der „Exteriorität“ zurückgreift, könne Subjektivitäten oder Existenzweisen hervorbringen, denen es gelingt sowohl Einblick in die Kolonialität zu bekommen als auch durch eine Änderung des Standpunktes über sie hinauszugehen. Schillernd wird der Begriff der Exteriorität spätestens mit Dussels Marxinterpretationen, in denen er ihn zu einem Schlüsselmoment Marx’scher Theorie erklärt und in einem Kommentar der Grundrisse darlegt, dass Marx von einer Affirmation der Exteriorität als lebendige Arbeit ausgehe, die sowohl absolute Armut wie Quell allen Wertes ist. Im System ein Nichts bewahrt die lebendige Arbeit die nötige Äußerlichkeit, um über dieses hinauszugehen.

Insofern sie für Verortungen der eigenen Aussage in Anspruch genommen wird, ist deutlich, dass die Exteriorität in dem besteht, was nicht endgültig in die koloniale Matrix der Macht oder die Kolonialität integrierbar ist und deshalb die Möglichkeit in sich birgt, deren Karten zu durchkreuzen und andere Kartographien zu erstellen: Grenzen von ihrer Erfahrung aus zu verschieben. Der von Levinas befürchteten Abschließung am Ort entkommt Dussel also auch dadurch, dass er einem von dessen Begriffen die Absolutheit nahm und ihn an seinen Ort stellte.

 

 

Studium der Philosophie in Würzburg, Poitiers, Neuchâtel und Köln. Veröffentlichungen: Weder Herr noch Knecht. Deleuzes Spinoza-Lektüren, Turia+Kant, 2012; Übersetzungen von Jean-Luc Nancy, René Schérer und Enrique Dussel.

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